Johan Tahon

Offer (2010)

Skulptur auf dem Rohrmeisterei-Plateau

Johan Tahon im Gespräch mit Jan Hoet, dem Leiter der documenta 9 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Confinium“ im Kunstverein Schwerte; eine Werkschau mit offenem Atelier, in dem man Johan Tahon bei der Arbeit zusehen konnte. Hier wurde auch letzte Hand angelegt an die Skulptur „Offer“, die in der Ausstellung erst als Ausführung in Gips zu sehen war. (Bilder rechts)

Werdegang

1965 in Menen /Belgien geboren; nach dem Schulabschluss Studium der Bildhauerei an Koninklijke Academie voor Schone Kunsten in Gent
1994 erste Ausstellungen in Belgien
1996 wird der Leiter der documenta 9, Jan Hoet auf ihn aufmerksam und lädt ihn ein zur Präsentation seiner Arbeiten in Museum voor Heedendagse Kunst in Gent Teilnahme an der Ausstellung De Rode Poort zusammen mit Luc Tuymans und Vito Acconci
2003 Teilnahme an Beaufort in Ostende
2009 Ankauf einer Monumentalplastik durch das Finanzministeriums in Den Haag
2010 vertreten bei „Grenzgebiet Ruhr“ mit der Ausstellung „Confinium“ im Kunstverein Schwerte
2017 im Juli Künstler des Monats an der Philipps-Universität Marburg
2018 „Wir überleben das Licht“ im Bonnefantenmuseum Maastricht
Johan Tahon lebt und arbeitet in Oudenaarde (Belgien), hat Ateliers aber auch in der Türkei und in der Schweiz.

Künstlerischen Intentionen (allgemein)

Zum Grundverständnis seiner Kunst soll hier zunächst Johan Tahon selber zu Wort kommen.

„Form ist nicht so wichtig wie die Atmosphäre und Seele einer Skulptur – es sind immer Sender oder Empfänger – eine Figur, die etwas anklingen lässt, was wir nicht verstehen. Sie greift nach etwas, aber kann es nicht fassen“
„Meine Skulpturen denken nach über die Welt, aber auch über ihr eigenes Wesen und Sein. Sie stehen in Verbindung mit der Wirklichkeit, aber wechseln auch unvermittelt in reine Vorstellungsbilder. Dieser Zwiespalt, der manchmal durch die Verdoppelung des Kopfes zum Ausdruck kommt, ist ein Kennzeichen meiner Skulpturen. Diesen Zwiespalt empfinde ich auch als Teil meiner eigenen Persönlichkeit.“
“Meine Skulpturen zeigen den Menschen als ein suchendes und nachdenkendes Wesen. Es sind Skulpturen, die an das innere Wesen des Menschen rühren, sein Denken widerspiegeln und es auf den Punkt bringen wollen.“
„Letzten Endes geht es immer um den Menschen. Ich bin nur in der Lage, mich selbst so gut wie möglich zu beobachten und darüber zu sprechen. Und dann hoffe ich, dass diese subjektiven Untersuchungen auch etwas Allgemeingültiges haben.“

Diese Zitate erinnern an Ideen wie die von Montaigne, hier aber sind sie in Form von Skulpturen festgehalten. Auf der anderen Seite wird auch deutlich, wie schwierig jede verlässliche Selbsterkenntnis zu sein scheint. So gehen die Grundgedanken für Tahons Skulpturen zurück bis zur Theorie von Sigmund Freud, der mit der Persönlichkeitsgliederung in „Ich“, „Über-Ich“ und „Es“ auch verdeutlicht hat, wie wenig der Mensch sich seiner selbst gewiss sein kann.

Der künstlerische Durchbruch gelang ihm mit der Beteiligung an der Ausstellung „De Rode Poort“ (1996) im Museum voor Hedendaagse Kunst in Gent.

Johan Tahon - Offer

Die Arbeitsmaterialien von Johan Tahon sind vorwiegend Gips (s. Fotos aus dem temporären Atelier im Kunstverein Schwerte) und Keramik, in selteneren Fällen auch Bronze wie bei der Skulptur „Offer“ auf dem Rohrmeisterei-Plateau. Die Skulptur ist ein Geschenk des Kunstvereins Schwerte (1987 - 2017) an die Bürger der Stadt.

In den Arbeiten von Johan Tahon begegnen sich häufig verschiedene Welten. Das zeigt schon der Titel: „Offer“; er kann sowohl mit „Opfer“ als auch mit „Angebot“ übersetzt werden.

Gemäß den Gesetzen der Gestaltpsychologie, wonach ein System von Zeichen den Rückschluss auf ein Ganzes ermöglicht (Punkt, Punkt, Komma, Strich = Gesicht / zwei senkrecht stehende Beine, darauf Rumpf und Kopf = Mensch), wird die Skulptur „Offer“ zunächst als Abbild einer menschlichen Figur wahrgenommen. Die Kunst der klassischen Antike, mit der sich Johan Tahon intensiv auseinandergesetzt hat, könnte tatsächlich hier Pate gestanden haben - etwa die Figur des „Epheben“ aus der Kunst des klassischen Griechenland. Dafür spräche auch die Beinstellung in klassischer Ponderation (Standbein – Spielbein-Stellung).

Dass aber in der Skulptur unterschiedliche Welten zusammentreffen, wird bei näherer Betrachtung schon an dem Tritthocker deutlich, der als Sockel verwendet wird. Die Kunst zu „erhöhen“, indem man sie auf zwei in jedem Kaufhaus zu erwerbende Tritthocker stellt und diese dann auch in Bronze gießt, kann auch als ironischer Kommentar zur Kunst und somit auch als Selbstkommentar verstanden werden.

Mit dem Blick auf den Sockel fällt der Blick jedoch zugleich auf die Sockelplatte / Standplatte der Skulptur, in der die Füße verschwinden; der hier gezeigte Mensch – wenn man denn vorläufig von einem solchen Abbild ausgeht – wird dadurch quasi zu einem Gefangenen seiner selbst. Nach dem Prinzip der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Bedeutungen erhält diese „menschliche Figur“ dadurch aber auch ihren sicheren Stand – Ort.

Letzteres scheint vor allem dann von Bedeutung, wenn klar wird, dass auch die Figur selbst aus mehreren Skulpturen zusammengesetzt zu sein scheint. So sind oberhalb des Schultergürtels gleich drei Kopfformen zu erkennen, von denen die oberste besonders groß und deutlich als individuelles Gesicht ausgearbeitet ist. – Und doch sagt Tahon von seinen Skulpturen, dass sie die Wirklichkeit abbilden.

Das bezieht sich zum einen auf die Psychoanalyse von Sigmund Freud: Der Trieb (Es) und die Moral (Über-Ich) bestimmen das Ich des Menschen. Der Anschein der Einheit einer Persönlichkeit erweist sich als Farce.

Doch bezieht Tahon sich in der Skulptur „Offer“ auch auf die verschiedenen Rollen des Menschen und die zunehmende Entfremdung von sich selbst: Akzeptierte Realität bemisst sich derzeit in „Likes“ und „Smiles“, während man das von Stress, Einsamkeit und Krankheit gezeichnete Gesicht nicht zeigen darf.

„Offer“ zeigt, wie unsicher der Mensch in der Wirklichkeit steht und enthält das Angebot zur Selbstreflexion.

Das bei der Skulptur „Offer“ erkennbare Gestaltungsprinzip mag an Vorgehensweisen im Surrealismus erinnern. Hier wird aber keine Außenwelt verfremdet oder neu erfunden, es werden keine Traumverzerrungen in eine skulpturale Form gebracht. Tahon ermöglicht den Blick auf ein sehr realistisches psychisches Sein, das sich der eindeutigen Zuordnung immer entzieht.

2010 verlegte Johan Tahon für 6 Wochen sein Atelier, die eigentliche Schatzkammer seiner Ideen und Entwürfe, in die Räume des Kunstvereins Schwerte. Hier konnte man ihn bei der Arbeit beobachten und sich mit ihm über Kunst und speziell seine Kunst austauschen. Eine ähnliche Situation gab es anschließend noch einmal im Gerhard-Marcks-Haus in Bremen. Von der dortigen Präsentation ging die Gips-Fassung von „Offer“ in die Bremer Bronzegießerei Statuarius, wo die heute auf dem Rohrmeisterei-Plateau zu sehende Skulptur entstanden ist.

In der Bremer Spezialgießerei für künstlerischen Bronzeguss STATUARIUS entstand aus der Gips-Skulptur die heute auf dem Rohrmeisterei-Plateau zu sehende Bronzefassung von „Offer“.

Fotonachweis
Bronzeguss © Gießerei Statuarius, Bremen
und Ulfried Weingarten